Doch was sollte Maria tun? In den letzten Monaten, als ihr Bauch dicker und dicker geworden war, hatte sie schon gelernt, dass es egal war, was sie tat, die anderen wussten etwas daran auszusetzen. Hatte sie am Acker das Unkraut gejätet, hatte man ihr vorgeworfen, dass sie wohl hoffte, durch das gebückte Arbeiten dem Kind so zu schaden, das es gar nicht erst auf die Welt kommen würde. Hatte sie sich vor dem Haus auf der Bank ausgeruht, hatte man sie faul genannt und Josef einen Trottel, der sich aus falschem Mitleid ausnützen ließ. Nein, sie, Maria, kümmerte es schon längst nicht mehr, was man über sie dachte und sagte, und deshalb würde sie gleich nach dem Frühstück Zebulon aus dem Stall holen und mit erhobenem Kopf vorbei an den Häusern der Nachbarn zum Wald reiten.
Zebulon hatte sich im Stall so in seinen Grant verrannt, dass er Maria erst bemerkte, als sie ihn losband und hinaus führte.
„Jetzt reite ich in den Wald Holz sammeln", sagte Maria fröhlich und warf eine dünne Decke über seinen Rücken.
Er warf ihr einen düsteren Blick zu, schließlich war sie nur die Frau vom Herrn und hatte ihm eigentlich nichts zu befehlen. Doch dann sah er den Proviantsack in ihrer Hand, und ihm ging ein Licht auf.
In den Wald zum Holzsammeln, dachte er, ich bin doch nicht naiv. Ihr hatte es also genausowenig gefallen, dass Josef einfach so zu einem kleinen Urlaub aufgebrochen war und sie zurückgelassen hatte.
Aber gemeinsam würden sie es diesem Herrn schon zeigen. Und als Maria sich schwerfällig auf den Eselsrücken setzte, hatte er sogar die Liebenswürdigkeit, ein wenig in die Knie zu gehen, damit sie sich nicht gar so plagen musste.
Maria kraulte ihn zwischen den Ohren. Das tat Josef nie. Willig setzte er sich in Bewegung. Er war zuversichtlich, im Staub der Landstraße Josefs Spuren folgen zu können. Der wird sich wundern, dachte Zebulon und ließ beglückt seine heisere Stimme erklingen.
In den Nachbarhäusern regte sich nun auch das Leben. Martha kehrte bereits den Gehsteig, und der junge Zebedäus kam gerade vom Fischfang zurück mit einem Korb voll glitzernder Fische auf dem Rücken. Magdalena, die kleine Tochter ihrer Nachbarin Naomi, lag draußen in der Morgensonne in der Wiege und spielte mit ihren Händchen. Sie war ein äußerst hübsches Kind. Maria winkte ihnen allen fröhlich zu. Sollten sie doch reden.
Willig schritt Zebulon über die Landstraße, so willig, dass Maria sich ein wenig wunderte. Schließlich beschwerte sich Josef oft genug darüber, wie langsam und bockig der alte Esel ging.
Sie kraulte Zebulon abermals zwischen den Ohren und flüsterte ihm freundliche Worte zu. Sie freute sich, als Zebulon daraufhin noch ein wenig schneller ging. Rasch waren die ersten Kilometer zwischen den Äckern und Weiden vorbei, und der Weg bog in den schattigen Wald ein. Vom Rücken des Esels, der keinerlei Müdigkeit zeigte, schaute Maria zwischen die Bäume, um die kleine Lichtung nicht zu verfehlen, die sie als Ziel auserkoren hatte. Dort würde sie ihre Decke ausbreiten, zuerst ein wenig Holz sammeln und dann herrlich in der Sonne liegen und träumen von ihrem Kind, das bald in der schönen von Josef gemachten Wiege liegen würde, fest gewickelt in die sorgfältig bestickten Windeln.
Als sie aber die Lichtung zwischen den Bäumen erreichten, ging der Esel stur weiter. Maria bat und bettelte mit sanften Worten, kraulte seine Mähne, zog heftig an den Zügeln, schimpfte und schrie, doch Zebulon machte einen Schritt nach dem anderen. Sogar als Maria sich nach vorn bog und mit ihren Händen die Augen des sturen Tieres zuhielt, blieb es nicht stehen.
Aus Angst um ihr Kind traute sie sich nicht, vom Rücken des Esels hinunterzugleiten, während dieser unaufhaltsam in raschem Tempo vorwärtstrottete. Hilflos musste sie sehen, wie die Lichtung aus ihrem Blickfeld verschwand. Immer tiefer und tiefer führte sie der Esel in den Wald hinein.
Wer konnte ihr helfen? Hier in dieser Gegend kannte sie niemanden. Ihre Verwandte Elisabeth und deren Mann wohnten in der ganz anderen Richtung.
Zebulon verstand nicht, warum Maria sich so seltsam benahm. Sie hatten doch beide dasselbe Ziel, nämlich Josef einzuholen und den Urlaub gemeinsam mit ihm zu verbringen, so wie es sich gehörte für einen Ehemann und Tierbesitzer.
Aber er hatte oft genug vor dem Wirtshaus den Männern zugehört, um zu wissen, dass schwangere Frauen sehr wechselhaft in ihren Gefühlen waren und dass man das als guter Ehemann und wohl auch als vernünftiger Esel am besten ignorierte. Deshalb trottete er unbeirrt weiter.
Hier und da war die Spur von Josef leicht verwischt, doch im Großen und Ganzen konnte er ihr leicht folgen. Nach einer Stunde führte der Weg hinaus aus dem Wald und wieder zwischen Feldern durch. Am Horizont ragten bläulich die Hügelzüge von Samarien. Zebulon schaute nicht hinauf. Er war hungrig, Maria hatte vergessen, ihn zu füttern. Er traute sich nicht, stehenzubleiben und am Wegesrand ein paar Gräser zu rupfen. Wer weiß, was Maria tun würde, und in Josefs Abwesenheit fühlte der Esel sich nun ein wenig für sie verantwortlich.
Sowie Zebulon aber an Josef dachte, glaubte er ihn auch zu riechen. Er hob den Kopf. In der Tat, kaum hundert Meter vor ihm, konnte er einen Menschen erkennen, welcher beständig die Straße entlangging. Dieser ruhige Gang, diese aufrechte, würdige Gestalt, das konnte nur Josef sein. Zebulon schrie siegesbewusst und setzte zum Zielsprint an.
Josef drehte sich um, als er das heisere Schreien eines Esels hörte, und er konnte es kaum fassen, als er in der Tat einen Esel mit einem Reiter in einem nahezu unglaublichen Tempo auf sich zukommen sah. Noch fassungsloser war er aber, als Zebulon knapp vor ihm zum Stillstand kam und Maria weinend und gleichzeitig lachend vor Erleichterung ihm um den Hals fiel. Es dauerte eine Zeit, bis er zwischen Zebulons triumphierendem Geschrei hindurch Marias gestammelte Worte verstand und die Zusammenhänge begriff. Kopfschüttelnd ließ er sich ins Gras fallen. Maria setzte sich neben ihn. Zufrieden sah Zebulon, der sich den Bauch mit saftigen Gräsern vollschlug, wie auch Josef und Maria ihre Proviantsäcke öffneten und aßen. Über ihnen schien die Sonne und verbreitete trotz des Wintertages eine angenehme Wärme. So hatte er sich schon immer einen Urlaub vorgestellt.
Natürlich würde Josef Maria wieder nach Hause bringen wollen. Vielleicht hatte Maria auch nichts dagegen, denn, wie gesagt, sie war schwanger und wechselhaft in ihren Gefühlen. Doch er, Zebulon, wollte diese kleine Erholungsreise fortsetzen. Er wollte die blauen Berge am Horizont erreichen und entdecken, was jenseits von ihnen lag. Er wollte mit Josef gemeinsam die Landstraße entlangtrotten, einmal ohne Hast und Eile. Er hatte eigentlich auch nichts dagegen einzuwenden, dass Maria sich ihnen anschloss. Ihre sanften Worte und das zärtliche Kraulen gefielen ihm, und Josef würde sich wohl hüten, in ihrer Gegenwart mit dem Stock zu drohen.
Zebulon kaute bedächtig und betrachtete Maria und Josef. Auch ihnen würde diese Erholung vom Alltag guttun. Wenn das Kind einmal da war, würden sie in den nächsten Jahren keine Reisen mehr unternehmen können. Sein Entschluss stand fest, und wenn sie nicht wollten, würde er sie zu ihrem Glück zwingen.
Und so geschah es letztendlich auch. Weder Marias liebevolle Worte noch Josefs Stock konnten Zebulon zur Umkehr bewegen, so dass sie sich schließlich zu dritt auf den Weg nach Bethlehem machten. Vorne Josef, voller Sorge und Ängste. Hinter ihm Maria auf dem Esel. Bald machte ihr das Schaukeln Beschwerden, und der harte Eselsrücken schmerzte. Sie wünschte sich sehnlichst, zu Hause zu sein beim Putzen und Vorhängewaschen.
Und Zebulon?
Er war zum ersten Mal in seinem Leben wirklich gut gelaunt. Denn er war auf Urlaub.
Rachel van Kooij
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